Aus der Praxis –
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Mehr Matsch!

Lesen Sie hier den vollständigen Beitrag von Nicola Holzapfel in der Süddeutschen Zeitung vom 31.03.2017.

 

Nahezu reglos sitzt Laura da, konzentriert und selbstvergessen hört sie zu, den Blick in die Ferne gerichtet. Es ist Vorlesezeit in der Schwabinger Stadtbibliothek, die warme und ruhige Stimme der Vorleserin, die nah neben ihr auf einem Stuhl Platz genommen hat, trägt die Vierjährige fort, in die Welt der Geschichte. Die Unruhe um sie herum nimmt Laura kaum wahr, kleine Geschwisterkinder wollen sich neugierig dazudrängeln und werden doch immer wieder im letzten Moment von ihren Müttern zurückgehalten. Andere Eltern kommen und suchen in den Regalen nach Büchern. Laura lässt sich jedoch davon nicht stören. Die Stimme der Vorleserin vermittelt ihr Ruhe und Geborgenheit.

Lauras Mutter erzählt, wie sehr ihre Tochter das Vorlesen liebt, sie selbst hat während der Vorlesestunde schon neue Lektüre für zu Hause ausgesucht. "Es unterstützt außerdem ihre sprachliche Entwicklung", sagt die Mutter. Wie sie, bringen viele Eltern gerne ihre Kinder vorbei, vor allem bei den Lesestunden für die unter Dreijährigen boomt die Nachfrage.

Mütter und Väter wollen ihren Kindern den bestmöglichen Start ins Leben bieten, sie fördern manchmal in einem Ausmaß, dass bereits von "Burn-out-Kids" die Rede ist. Yoga für Babys, Capoeira für Kindergarten-Kinder, Apps, die angeblich kreativ und schlau machen: Es gibt scheinbar unendlich viele Möglichkeiten, sein Kind dabei zu unterstützen, seine Potenziale zu entfalten.

Auf den ersten Blick erscheint das ja auch logisch, schließlich ist das Gehirn in den ersten Lebensjahren besonders lernfähig. Es besteht aus mehr als 150 Milliarden Nervenzellen, und jede einzelne hat wiederum mehrere Tausend Kontakte mit anderen Zellen. "Wir haben ein äußerst komplexes Netzwerk mit vermutlich mehr als drei Billiarden Verschaltungen im Kopf", sagt Christian Fiebach vom Lehrstuhl für neurokognitive Psychologie der Universität Frankfurt. Da liegt die Idee nahe, mit extra Förderung ein paar Synapsen mehr anzuregen, um dem kindlichen Intellekt ein wenig auf die Sprünge zu helfen.

In Tierexperimenten haben Forscher längst nachgewiesen, dass mehr Anregungen zu mehr Synapsen führen. "Das lässt sich vermutlich auf die kindliche Entwicklung übertragen", sagt Fiebach. Reichhaltige Erfahrungen beeinflussten also die Vernetzung des Gehirns und förderten somit potenziell die kognitive Entwicklung. Je mehr ein Kind sich mit seiner Umwelt auseinandersetzen muss, umso mehr Erfahrungen wird es machen und umso eher sein Potenzial erschließen.

Dafür müssen Kinder aber keine ausgefallenen Kurse buchen. Es bringt schon viel, wenn sich die Kleinen zwei bis drei Stunden täglich bewegen. "Studien zeigen, dass Bewegung starke Effekte auf die synaptischen Verschaltungen hat", sagt Fiebach. Die sensomotorischen Erfahrungen unterstützen die Vernetzung der Nervenzellen im Gehirn. "Bewegung ist von Anfang an ein Weg, sich die Welt zu eigen zu machen", sagt auch Renate Zimmer, Direktorin des Niedersächsischen Instituts für frühkindliche Bildung und Entwicklung (NIFBE) in Osnabrück. Das beginne beim Säugling, für den Bewegung ein "hochgeistiger Prozess" sei, und steigere sich dann im Krabbelalter, wenn sich Kinder den Raum erschließen. "All das regt die intellektuelle Entwicklung an. Wir kommen auch über Bewegung zur Sprache."

Damit ist allerdings nicht das Training in der Halle gemeint oder ein eng getakteter Wochenplan, der an einem Tag Pekip, am nächsten Tag Babyschwimmen vorsieht. Wichtig ist vielmehr möglichst freies Spiel, am besten mindestens eine Stunde am Tag auch draußen. Dabei erschließen sich Kinder Handlungsspielräume durch ihre eigene Aktivität. Sie finden Lösungen zu Fragen, die ihnen Erwachsene nie gestellt hätten.
Wenn es regnet, das Laub nass und alles matschig ist, sind das neue Reize, mit denen sich Kinder auseinandersetzen

"Die Umwelt verändert sich ständig. Da bleibt nichts, wie es ist", sagt Zimmer. Wenn es regnet, das Laub nass und alles matschig ist, sind das zusätzliche Reize und neue sinnliche Impulse, mit denen sich Kinder auseinandersetzen. Eltern rät die Bewegungswissenschaftlerin, mit ihren Kindern öfters mal in den Wald zu gehen, ihnen auch Anregungen zum selbständigen Lernen zu geben.

Doch ist überhaupt fraglich, inwiefern Eltern ihr Kind nach bestimmten Vorstellungen gezielt fördern können. Manche Erwartungen werden enttäuscht, etwa wenn das Kind trotz aller Förderung die Hochbegabtenprüfung nicht besteht. "Die biologische Anlage gibt gewisse Möglichkeiten der Entwicklung vor", sagt Fiebach. Und es gebe anscheinend auch bestimmte Sequenzen im Genom, die eine schwache Assoziation mit dem erreichten Bildungsniveau zeigten, erklärt Fiebach: "Das Zusammenspiel mit der Umwelt ist aber sehr komplex." Hier und da ein wenig zu schrauben, bringt also nicht automatisch das gewünschte Ergebnis.

Auch die Musik ist ein Beispiel dafür, dass sich die kindliche Entwicklung nicht so gezielt fördern lässt, wie es sich manche Eltern vielleicht wünschen. Nicht aus jedem Kind, das mit fünf ein Instrument spielt, wird ein begnadeter Musiker, auch wenn Berufsmusiker in der Regel früh angefangen haben zu musizieren. Auch die positiven Nebeneffekte von Geige, Klavier oder Blockflöte, die manche Studien nahelegen, sind nicht so eindeutig. "Eine nennenswerte Intelligenzsteigerung durch Musik lässt sich wissenschaftlich nicht belegen", sagt der Musikwissenschaftler Heiner Gembris, Leiter des Instituts für Begabungsforschung in der Musik an der Universität Paderborn, der eine Übersichtsarbeit über die kognitiven Effekte des Musizierens veröffentlicht hat.

Allerdings verfügen musizierende Kinder - und Erwachsene - häufig über ein größeres Volumen in bestimmten Gehirnregionen, auch die Anzahl der Nervenverbindungen ist größer. Das führt zu einer effizienteren Verarbeitung und zu einer verstärkten Synchronisation von Funktionen der linken und rechten Hirnhälfte. Bei musizierenden Kindern gibt es auch Hinweise auf eine beschleunigte Gehirnentwicklung. Daher könne man zwar durchaus sagen, Musik sei gut fürs Gehirn, sagt Gembris: "Aber nicht in dem Sinn, dass ein Kind das messbar in Schulleistungen umsetzen kann." Musizieren und Musikunterricht sollten in erster Linie um der Sache willen stattfinden und nicht aus der Intention heraus, ein Kind klüger zu machen, erklärt Gembris.
Musikalische Bildung in der Kindheit stellt ein lebenslanges wirksames Kapital dar

Immerhin glauben einige Forscher inzwischen aber, dass Musizieren den Spracherwerb fördert und sich bei Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwäche positiv auswirken kann. Einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge sind Kinder, die ein Instrument über mehrere Jahre hinweg spielen, gewissenhafter und ambitionierter als andere. Vor allem Kinder bildungsferner Schichten profitieren angeblich von den positiven Effekten des Musizierens, unter anderem blicken sie optimistischer in die Zukunft. "Die musikalische Bildung in der Kindheit stellt ein lebenslang wirksames kulturelles Kapital dar, das zugleich eine starke Ressource für Lebensqualität ist", sagt Gembris.

Manche Eltern versprechen sich auch viel von elektronischen Medien, die angeblich die kognitiven Fähigkeiten von Kindern trainieren. "Die Kinder werden in den jeweiligen Aufgaben im Spiel besser, aber ich bin skeptisch, inwieweit sich das auf andere Lebensbereiche übertragen lässt", sagt Johannes Breuer vom Lehrstuhl für Medien- und Kommunikationspsychologie an der Universität Köln und dem Leibniz-Institut für Wissensmedien in Tübingen.
Kinder wollen die Seiten eines Buches vor- und zurückblättern und mit dem ganzen Körper dabei sein

Sogenannte Brain Games zum Beispiel haben keine nachweisbaren kognitiven Effekte, das ergab zuletzt wieder eine Übersichtsarbeit, die in der führenden Fachzeitschrift Psychological Science erschienen ist. Auch andere Kompetenzen wie etwa künstlerische oder motorische Fähigkeiten lassen sich mit elektronischen Medien kaum trainieren: "Sie können Interesse für ein Thema wecken und auch bis zu einem gewissen Grad Wissen vermitteln. Einstellungen oder Verhaltensweisen lassen sich dadurch aber nur schwer ändern", sagt Breuer. Der Einsatz solle insbesondere im Kindergartenalter auf jeden Fall nur sehr dosiert erfolgen. Vor allem Lern-Apps für Kinder jünger als sieben Jahre taugen nach Ansicht von Renate Zimmer vom NIFBE überhaupt nichts: "Kinder müssen Lernsituationen im Handeln bewältigen und die Konsequenzen ihres Handelns überprüfen können. Das bekommen sie nicht, wenn sie mit Druck- und Wischbewegungen am Handy spielen."

Tatsächlich legen Eltern bereits die Grundlagen für die Entwicklung des Intellekts, lange bevor sie ihr Kind zur ersten Sport- oder Musikstunde anmelden. Vor allem zählt nämlich, welche Erfahrungen die Kleinen bereits als Babys machen. Die Psychologin Mary Ainsworth hat dafür den Begriff der "Feinfühligkeit" geprägt. "Die feinfühlige Zuwendung durch die Eltern in den ersten Lebensjahren führt zu einer erhöhten Kompetenzentwicklung in allen Bereichen", bestätigt auch Fabienne Becker-Stoll, Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München. Je mehr liebevolle Zuwendung Babys und Kleinkinder durch vertraute Bindungspersonen erfahren, desto besser kann sich ihr Gehirn entwickeln. Sie brauchen weniger Gehirnkapazität, um Stress zu regulieren, sodass ihr Aufmerksamkeitssystem für die kognitive Verarbeitung von Reizen sehr viel mehr Freiheitsgrade hat.

Säuglinge haben das Bedürfnis, sich an eine Bezugsperson zu binden, die ihnen emotionale Sicherheit bietet. Erst aus dieser sicheren Basis heraus können sie sich der Welt zuwenden. "Die verlässliche liebevolle Zuwendung durch die Eltern in den ersten Lebensjahren ist entscheidend für die Entwicklung der Gehirnregulation", sagt Becker-Stoll. Und der Aufbau der neuronalen Netzwerke finde in den ersten Tagen, Wochen, Monaten und Jahren statt - besonders durch die Interaktionen, die das Kind mit seinen Bezugspersonen erlebt. "Die Reize, die beim Baby über die Sinnesorgane im Gehirn ankommen, führen nur zu neuen synaptischen Verbindungen, wenn sie innerhalb einer für das Kind hochbedeutsamen Beziehung eingebettet sind", sagt Becker-Stoll.

Auch sollten Eltern möglichst viel mit kleinen Kindern reden. "Wenn die soziale Umgebung wenig Anregung bietet und die Bezugspersonen kaum mit ihnen sprechen, haben Kinder alleine beim Wortschatz, der enorm das Denken beeinflusst, einen Rückstand, der kaum noch aufzuholen ist", konstatiert Becker-Stoll. Das gilt selbst dann, wenn sie mit einem hohen Potenzial an Informationsverarbeitung im Gehirn das Licht der Welt erblickt haben.

Das gemeinsame Anschauen von Bilderbüchern, Vorlesen und vor allem das Sprechen darüber fördert Studien zufolge unter anderem Sprachentwicklung und Wortschatz von Kindern, sowie deren Empathiefähigkeit. "Bücher sind wesentlich für die frühkindliche Entwicklung", sagt auch Renate Zimmer vom Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung. Kinder wollen die Seiten vor- und zurückblättern und mit dem ganzen Körper dabei sein.

Die gemeinsame Zeit mit dem Kind zu nutzen, raten auch Bildungsforscher. "Die beste Förderung ist die, wenn die Eltern mit dem Kind das unternehmen, was ihnen selbst am meisten Spaß macht", sagt Becker-Stoll. Das Glück des Zusammenseins und die Freude am gemeinsamen Tun seien der beste Nährboden für die Entwicklung von Interessen und Begeisterung. Ohne ihn wird ein Kind seine intellektuellen Fähigkeiten und Begabungen nicht entwickeln können.

So besucht die vierjährige Laura nicht nur wöchentlich die Vorlesestunde in der Bibliothek. Ihre Eltern nehmen sich zudem die Zeit, ihr täglich morgens und abends vorzulesen, berichtet die Mutter: "Das ist auch eine gemeinsame Kuschelzeit, die sie sehr genießt."

 

 

Verfasserin: E. Reuschel, 18.5.2017
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/wissen/paedagogik-mehr-matsch-1.3443904?reduced=true


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